Meldung 2857

Mittwoch, 10.08.2022, 00:00 Uhr

aktuell24
"Ein Gefühl der Hilflosigkeit":

Motorräder donnern mit mehr als 100 Dezibel durch den Ort - Lärmgeplagte Anwohner gehen auf die Straße und wollen nun aus Verzweiflung ihre Häuser verkaufen - Aktuelle Studie des Landes Baden-Württemberg zeigt, dass lediglich 13 Prozent aller Kräder unter zugelassener Lärmschwelle von 80 Dezibel fahren - Verständnis bei Bikern nur wenig ausgeprägt

Anwohner Markus Renner kann seinen Garten am Wochenende nicht mehr nutzen und flüchtet mit seiner jungen Familie regelmäßig zu Freunden - Anwohner blockieren Durchgangsstraße und sprechen von Terror: "Wenn da so ein Pulk durchfährt, klingt es wie ein Panzer." - Motorradfahrer sehen sich im Recht, auch wenn sie selbst im Interview von lautstarken Kollegen unterbrochen werden (on tape) - Eindrucksvolle Aufnahmen zeigen lauten Motorradverkehr direkt am Haus der Familie vorbeifahren - Wir haben mit beiden Seiten ausführlich gesprochen und Aktion begleitet - Land Niedersachsen bestätigt das Problem, sieht aber wenig Handhabe und verweist auf mangelnden Willen beim Bund

Sonntagnachmittag im Garten von Markus Renner. Während seine Kinder Romy (2) und Frida (1) im Garten spielen, unterhält er sich mit seiner Lebensgefährtin Juliane Jackermeier. Doch nach bereits wenigen Sätzen wird ihr Gespräch unsanft unterbrochen. Laut polternd rollen einige Motorräder auf der Durchgangsstraße unmittelbar an dem Haus der jungen Familie vorbei. 

"Wir haben es gemessen und Lärmspitzen von 110 Dezibel erreicht", weiß Renner zu berichten. "Der Fahrer jetzt war vielleicht bei 100 Dezibel." Kurz darauf gibt der Biker richtig Gas. "So ein A****loch", kommentiert Renner. Er ist genervt. Denn was vielleicht wie ein Einzelfall klingt, erfährt er jedes Wochenende. Er und seine Familie flüchten daher an den Tagen, wo sie sich erholen wollen, zu Freunden oder der Familie in anderen Orten. Denn ihren großen Garten in Golmbach können sie in den Sommermonaten schon lange nicht mehr wirklich nutzen. Daher plant er auch, sein Anwesen zu verkaufen. Und so wie ihnen, geht es vielen in der Region. "Das ist die Hölle. Wenn die im Pulk kommen, klingt es, als würde ein Panzer durchfahren", kann Maike Weiß berichten.

Sie ist Teil der Demonstration, die Markus Renner und andere Anwohner organisiert haben. Dabei blockieren sie die Durchgangsstraße und zwingen die Biker zum Abbremsen und Umfahren. "Wir wollen den Kradfahrern nicht ihr Hobby nehmen, sondern, dass ihre Maschinen leiser werden", findet Birgit Schünemann. Wie auch ihre Nachbarn leidet sie schon seit längerem an Schlafstörungen, Bluthochdruck, Hypersensibilität.

Deswegen wollen sie sich nicht länger de Gefühl der Hilfslosigkeit hingeben, sondern sind aktiv geworden. "Das Problem sind nicht wenige schwarze Schafe, sondern die Masse an Fahrzeugen, die sehr laut sind. Die sind teilweise zwar gesetzkonform und die Lautstärke eingetragen. Aber das ist das Problem - es ist legal", bringt es Edith Götz auf den Punkt. Sie verweist dabei auf eine Studie des Landes Baden-Württemberg, die in diesem Sommer veröffentlicht wurde. Langzeitmessungen ergaben dabei, dass lediglich 13 Prozent aller Motorräder die Dezibelgrenze von 80 einhalten. Jede dritte Maschine ist lauter als 90 Dezibel. Und das größte Problem: Viele sind es ab Auslieferung aus dem Motorradwerk, da die Hersteller sich wohl kaum um die Einhaltung kümmern und die Messverfahren zur Bestimmung der Höchstgrenze an der Realität vorbeigehen. "Die Politik muss daher endlich was gegen den Wahnsinn machen. Und das nicht auf kommunaler Ebene, sondern im Land oder im Bund", betont Markus Renner. 

Zwar würden sowohl der Landkreis als auch die Kreispolizei die Anwohner mit Aktionen und Kontrollen unterstützen - doch bei 400 Fahrzeugen in der Stunde ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Motorradfahrer indes können die Aufregung nicht verstehen. "Die Zweiräder fahren hier vernünftig durch. Das ist alles gesittet", findet Bikerin Heike Westfeld und die Motorradfreunde Stefan und Rabea Matthias bestätigen sie: "Wieso sollen wir die Motorräder leiser machen, wenn sie ab Werk in Ordnung sind? Irgendwo gibt es gesetzliche Vorgaben, wo es Okay ist."

Und Matthias Volk fühlt sich pauschal verurteilt: "Der Lärm sollte generell gesenkt werden. Es gibt auch zu laute Autos oder landwirtschaftliche Maschinen. Ein paar faule Äpel gibt es bei Motorradfahrern, aber die gibt es in jeder Gesellschaft." Er und seine Bikerkollegen sprechen immer wieder davon, über einen Kamm geschert zu werden und dass es überall schwarze Schafe gibt. Was eine Lärmreduzierung angeht, hat er eine klare Meinung: "Wenn es nicht mit einem sagenhaften Leistungsverlust einhergeht, wäre mir das völlig Banane."

Zurück zu Markus Renner und seiner Familie. Banane ist das, was er in den letzten Jahren erlebt, schon längst nicht mehr. Vor allem seit Corona sei es besonders schlimm geworden, als die Menschen mehr Freizeit hatten. Er will in den nächsten zwei Jahren sein Grundstück verkaufen und umziehen. Am liebsten in der Nähe bleibend, aber definitiv weg von der Hauptstraße. Seine Tochter habe heute Angst, wenn die Kräder laut lärmend am Garten vorbei rauschen und das ins Bett bringen werde im Sommer häufig zur Tortur.

Doch wer kauft solch ein Haus an der gefühlten Rennstrecke? Markus Renner weiß es aktuell nicht, doch er gibt ehrlich zu: "Wenn Leute kommen und fragen, dann sag ich denen, sie sollen es sich dreimal überlegen." Es habe schon Fälle gegeben, dass Kaufinteressenten zuschlagen wollten, die er ob des Lärms jedoch zum sonntäglichen Hören eingeladen habe. "Danach haben sie Abstand davon genommen und wollten lieber die Finger davon lassen." Er wird daher weiter dafür kämpfen, dass die Politik endlich reagiert, und die Höchstgrenzen für lärmende Fahrzeuge absenkt und gegebenenfalls auch Durchfahrverbote ausspricht.



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